Fachtag I - Auf dem Weg zu einer inklusiven Erziehungshilfe
Der Fachtag hatte zum Ziel, die ersten Erkenntnisse des Modellprojekts "Inklusion jetzt- Entwicklung von Konzepten für die Praxis" zusammenzuführen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Mit rund 100 Teilnehmenden startete die digitale Veranstaltung mit einem Vortrag von Wolfgang Schröer, Professor am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim, der die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts durchführt. Er machte deutlich, dass das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) nicht den Endpunkt eines Prozesses darstellt, sondern vielmehr den Beginn zur Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe. Nun liege es an den Akteur*innen in der Praxis, die rechtlichen Rahmensetzungen auszufüllen und für die Kinder und Jugendlichen ‚Hilfen aus einer Hand‘ zu entwickeln.
Schröer hob hervor, dass die längst überfällige Anpassung des SGB VIII einen neuen Abschnitt der Leistungserbringung für junge Menschen und ihre Familien markiert. Dabei reichen die Auseinandersetzungen des ‚Wie‘ der sogenannten inklusiven Lösung bis in die Anfänge des SGB VIII zurück. Deutlich wurde, dass es nun darum geht, in einer partizipativ angelegten Weise die Grundrechte aller jungen Menschen zu verwirklichen und diese in ihrer Subjekthaftigkeit wahr und ernst zu nehmen.
Diese Stärkung der Rechte, so Schröer, kann dadurch gelingen, dass der Auftrag zum Aufbau infrastruktureller Rahmenbedingungen in den sozialräumlichen Bezügen konsequent umgesetzt und in einem gemeinsamen Prozess entwickelt wird. Dazu bedürfe es einer neuen Phase der Modellentwicklung, die durch die kommunale Politik aktiviert wird. Die Umsetzung des KJSG kann nicht nur verfahrensrechtlich geschehen, sondern muss sich vielmehr an den notwendigen Schritten zur diskriminierungsfreien sozialen Teilhabe junger Menschen orientieren: Die Hilfeangebote müssen sich daran messen lassen, in welchem Maß diese Teilhabe umgesetzt wird.
Nach dem Vortrag stand vor allem die Frage im Raum, was nun aktiv zu tun sei, um die Vorgaben des KJSG aufzunehmen und gleichzeitig die Umsetzung von Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe weiter voranzutreiben. Als Grundtenor wurde herausgearbeitet, dass vor allem die Aktivität in den bestehenden Gremien, wie den Arbeitsgemeinschaften nach § 78 sowie den Jugendhilfeausschüssen, wesentliche Instrumente darstellen, um kommunal die nun notwendigen Dialogprozesse in Gang zu setzen. Die Jugendhilfeträger sollten jetzt in einem kokreativen Prozess ein gemeinsames inklusives Leitbild entwickeln. So gelte es kommunal und auf Landesebene ein gemeinsames Verständnis von Inklusion zu entwickeln und konsequent umzusetzen.
Wie ein solcher Prozess vonstattengehen kann, wurde im zweiten Vortrag des Fachtages deutlich. Daniel Thomsen, Leiter des Jugendamts Nordfriesland, stellte in seinem Vortrag dar, "Wie die ‚inklusive Lösung‘ gelingen kann". Nachdem er die lokalen Strukturen erläutert hatte, nahm Thomsen die Teilnehmenden mit in die Praxis seiner Arbeit. Dafür machte er zunächst deutlich, dass es einer gemeinsamen, von öffentlichen und freien Trägern geteilten, Grundhaltung bedarf, deren Ziel die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Sozialräumen ist. Dabei hat für Thomsen die Prävention Vorrang vor Einzelfällen, was mit einer finanziellen Förderung niederschwelliger Angebote einhergeht. Die Verankerung einer inklusiven Haltung ist für ihn elementarer Bestandteil in der sozialräumlichen Arbeit und eine Haltung, an welche die Strukturen anzupassen sind.
Die Förderung der Bindung von jungen Menschen und Eltern sieht Thomsen dabei als die wesentliche Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Eingliederungshilfe an. Bei der Entwicklung der ‚inklusiven Lösung für den Kreis Nordfriesland‘ war insbesondere die Frage leitend, wie der Haltung entsprechende Strukturen und Angebote geschaffen werden können.
Der Wille der Adressat*innen steht für ihn dabei immer im Mittelpunkt und ist immer in Verbindung mit den vorhandenen Ressourcen zu sehen. In der Praxis wird diese Haltung daran deutlich, dass das Familiensystem eingebunden wird in einen Prozess der Ko-Produktion. Diese Ko-Produktion ist sowohl in der Eingliederungshilfe wie auch in der Kinder- und Jugendhilfe von einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Allgemeinen Sozialen Dienst, dem Sozialraumträger und weiteren beteiligten Professionen in sogenannten Regionalteams geprägt.
Die Falldurchführung übernimmt der entsprechende Träger der Eingliederungshilfe bzw. der Kinder- und Jugendhilfe. Dieser führt flexible Hilfen durch, passt gegebenenfalls Strukturen und Bedarfe an, kooperiert mit anderen Trägern und zieht sich bei Bedarf Spezialwissen heran. Der Fallverlauf wird regelmäßig überprüft und mit dem Regionalteam rückgesprochen. Die fallspezifische Arbeit erfolgt systemisch und ist von einem partnerschaftlichen Miteinander von freier und öffentlicher Jugendhilfe geprägt. Kurze Entscheidungswege und niedrige Hierarchien prägen die Zusammenarbeit.
Im Kontext der sogenannten fallunspezifischen Arbeit entwickeln Regionalteams mit Kooperationspartnern unterschiedliche Angebote entlang der Bedarfe der Adressat*innen im jeweiligen Sozialraum.
Die Finanzierung und Steuerung, so Thomsen, erfolgt mittels Sozialraumbudgets auf Ist-Kosten-Basis. Damit soll der Weg weg von einer Defizitorientierung, hin zu einer Ressourcenorientierung gegangen werden, damit systemisch und multiprofessionell gemeinsam an der Verbesserung der Lebenslagen aller jungen Menschen gearbeitet werden kann.
Für die Umsetzung der ‚inklusiven Lösung‘ bedarf es laut Thomsen einer gemeinsamen Haltung und Mut, sich den Herausforderungen anzunehmen. Die Konzentration auf Ressourcen der jungen Menschen und der gesamten Familiensysteme sollte dabei im Mittelpunkt stehen, an der sich die organisatorisch-strukturelle Entwicklung orientieren sollte.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist für Thomsen die finanzielle Klärung in den Ländern und den Kommunen, da es letztendlich nur um Verschiebungen steuerlicher Mittel geht, die zum Wohl der Gemeinschaft einzusetzen sind.
Die sich anschließende Diskussion machte deutlich, dass ein inklusiver Prozess, wie Thomsen ihn beschrieben hatte, auf lange Sicht nicht nur die Situation von jungen Menschen und deren Familiensystemen verbessert, sondern auch mit einer für die öffentlichen Haushalte positiven Kostenentwicklung einhergehen kann.
Nach der Mittagspause hatten die Teilnehmenden Gelegenheit, sich in sechs unterschiedlichen Workshops mit konkreten Fragestellungen aus dem Modellprozess "Inklusion jetzt!" auseinanderzusetzen:
Workshop 1 befasste sich mit der inklusiven Angebotsentwicklung im Jugendhof Gotteshütte. Britta Obernolte und Lars Schünke gaben Einblick in den Prozess ihrer Einrichtung und sensibilisierten die Teilnehmenden für die Kernthemen der Entwicklung inklusiver Angebote. Wichtige Themen waren dabei die Frage nach der inklusiven Haltung und wie diese in der Mitarbeitendenschaft und der gesamten Einrichtung verankert werden kann. Dabei wurde besonders deutlich, wie eng Personalentwicklung, Qualitätsentwicklung, Organisationsentwicklung und multiprofessionelle Vernetzung miteinander verzahnt sind. Der sich anschließende Austausch kann in dem digitalen Padlet des Fachtags fortgesetzt werden.
Workshop 2 fokussierte die inklusive Organisationsentwicklung. Petra Hiller von der Stiftung Overdyck ging mit den Teilnehmenden anhand von 14 Leitfragen ins Gespräch und formulierte unterschiedliche Themenschwerpunkte, an denen gearbeitet werden muss, um eine Organisation inklusiv aufzustellen. Unter anderem waren dabei Verfahren der Hilfeplanung und Partizipation der jungen Menschen im Fokus, wie auch die infrastrukturellen Herausforderungen, etwa im Kontext von Barrierefreiheit und Mitarbeitendenfortbildungen.
Workshop 3 führte die Teilnehmenden in die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ein. Uwe Niederlich von der Rummelsberger Diakonie gab den Teilnehmenden grundlegende Informationen zum Bio-Psycho-Sozialen Modell der ICF und erläuterte den Prozess der Bedarfsermittlung.
Workshop 4 öffnete den Blick für Prozesse im Sozialraum. Ute Thumer von der Diakonie Heilbronn und Andrea Wapsas aus der Einrichtung St. Petri und Eichen nahmen die Beteiligten mit in die Entwicklung inklusiver Sozialraumkonzepte. An den Beispielen von Heidelberg und Bremen wurde deutlich, welches Potential inklusive Quartiersentwicklung hat, um die Lebensqualität der Bewohner*innen zu verbessern und zu erhöhen. Fazit des Workshops war: Quartiersentwicklung lohnt sich! Dadurch werden Synergieeffekte genutzt, Adressat*innen empowert und Angebote adressat*innengerecht weiterentwickelt.
Workshop 5 ermöglichte den Einblick in Beteiligungskonzepte für junge Menschen in der Eingliederungshilfe. Sonja Pigor und Christiane Busch von der Nieder-Ramstädter Diakonie stellten sich mit den Workshopteilnehmenden die Frage: Wie kann Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen in der Praxis aussehen? Anhand des Beispiels von "Mein Pan Kinder", einem ICF-basierten Instrument, stellten die beiden Kolleginnen die Möglichkeiten von Beteiligung nach Stand der Entwicklung des jungen Menschen vor. In dieser Methode, die vor allem auf Beobachtung setzt, geht es um die Wünsche und Ziele der beeinträchtigten Person, was eine sehr sensible Arbeit mit dem jungen Menschen erfordert.
Workshop 6 fokussierte das Thema der gelingenden Elternarbeit. Die Referentinnen Andrea Grugel von der St. Josefs gGmbH Stuttgart und Delia Godehardt vom Jugendamt Stuttgart gestalteten mit den Beteiligten einen interaktiven Workshop und bearbeiteten gemeinsam einen Fall, durch den die Methode des ‚Beteiligungsorientierten Stadtteilteams‘ dargestellt wurde. Diese Methode legt den Fokus auf die Partizipation der jungen Menschen und deren Familiensystem, um sozialraumorientiert und interdisziplinär zu arbeiten.
Als Fazit des Fachtages lässt sich festhalten, dass es bereits viele modellhafte inklusive Vorgehen in der Praxis gibt. Es wurde aber auch deutlich, dass besonders die Zusammenarbeit unterschiedlicher Systeme und Trägerstrukturen noch bei Weitem nicht den Anforderungen der inklusiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe genügt. Es bedarf also eines mutigen Vorangehens öffentlicher wie freier Träger, um die Teilhabebarrieren für junge Menschen in der Gesellschaft zu beseitigen. Der Rahmen ist gesetzt, nun gilt es ihn zu füllen!